DIE OPERATION
Es war ihm wichtig gewesen, noch vor dem Eingriff das Kapitel „Abschiede“ seiner Lebenserinnerungen fertig zu stellen. Er hatte deshalb nach dem Abendessen bis zum späten Abend daran gearbeitet bis er trotz einiger ungelenke Formulierungen mit dem Entwurf zufrieden war.
Sie hörten noch eine halbe Stunde gemeinsam Musik, dann zog er sich in sein Schlafzimmer zurück und schlief wider Erwarten schnell ein.
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Etwas berührte ihn am Arm. Es war M., die ihn weckte.
Das Taxi kam pünktlich um acht. Der Fahrer verstaute seinen Trolli im Kofferraum, die Aktenmappe, die Senecas „Vom glücklichen Leben“ einige CDs und das Manuskript seiner Lebenserinnerungen enthielt, nahm er mit sich in den Wagen.
Nach einer Stunde waren sie an der Klinik. Er bezog ein ruhiges Einzelzimmer im obersten Stock. Der Tag ging mit Formalitäten schnell vorüber: Aufnahme der Personalien, Einweisung in die Station, Mittagessen, vor dem Kaffee ein kurzer Spaziergang im Garten der Klinik bei sonnigem, nicht sehr kaltem Januarwetter, Kaffee und Kuchen; nach dem Abendessen gingen sie noch eine kurze Runde durch die angrenzenden Straßen der Stadt.
Angehörige der am Wochenende anreisenden Patienten durften samstags kostenfrei im Haus übernachten und deshalb blieb M. heute bei ihm. Sie hörten sich einige Kapitel aus dem Hörbuch „Der Golem“ an, lasen jeder für sich noch ein wenig und gingen, wie immer, früh ins Bett.
Ihm fiel auf, dass M. heute beim Einschlafen nicht schnarchte. Zu Hause schliefen sie deshalb schon seit einigen Jahren in getrennten Zimmern.
Am Sonntagmorgen besuchten sie nach dem Frühstück eine Ausstellung in einem nahe gelegenen Museum, das ihnen bei ihrem Rundgang am Abend zuvor wegen seiner modernen Architektur aufgefallen war. Mittags aßen sie in einem italienischen Restaurant, legten sich im Zimmer zurück aufs Bett und vögelten. M. verabschiedete noch vor dem Abendessen und fuhr mit dem Zug zurück.
Allein im Zimmer befiel ihn tiefe Melancholie, eine Niedergeschlagenheit, die ganz anders war, als die postkoitale Tristesse, die er früher oft erlebte.
Er schaltete den Fernseher ein, fand aber nichts interessantes, lief zunehmend angespannt im Zimmer herum, setzte sich schließlich in einen Sessel und zwang sich, im Seneca zu lesen.Die Panik legte sich, aber eine quälende Nervosität blieb.
Er schlug das Manuskript seiner Lebenserinnerungen auf, an denen er seit einigen Monaten arbeitete. Er hatte vor, während des Aufenthaltes in der Klinik weiter daran zu arbeiten, nach Möglichkeit das Kapitel „Abschiede“, in dem er das Ende verschiedener Liebesbeziehungen schilderte, abzuschliessen.
Die Ordnung folgte chronologisch der Zeit von 1963-1979, der Jahre, bevor er seine zweite Frau Maria kennen gelernt hatte. Abgeschlossen hatte er bereits die Erzählung vom Ende seiner ersten keuschen Liebe zu Rele, den Abschluss sollte seine obsessive Liaison mit Isotta bilden, einer Frau von fast magischer sinnlicher Anziehungskraft, einer zweiten Lulu, der nicht nur er immer wieder erlegen war.
Er begann zu lesen:
„RELE
Wir waren am Nachmittag ziellos durch Salzburg gebummelt und hatten darüber gesprochen, wie es nun weitergehen solle.
Sie wollte nach ihrer Matura im Juni des Jahres für einige Wochen nach Kalifornien fahren, ohne genau zu sagen, was sie dort machen wollte.
Ich erzählte ihr von unserer für die gleiche Zeit geplanten Indienreise.
Bezüglich einer gemeinsamen Zukunft kamen wir nicht weiter. Sie sagte, sie könne sich noch nicht entscheiden, brauche noch Zeit; ich möge geduldig sein, es werde schließlich alles gut werden. Ich antwortete, ich hätte jetzt fünf Jahre gewartet und wolle nicht länger im ungewissen bleiben.
Am Abend gingen wir zum Bahnhof, um auf meinen Zug nach München zu warten. In der Bahnhofshalle klang Musik aus den Lautsprechern.
Als der Zug einfuhr lief spielten sie „Bésame mucho“, das Lied, das ich an jenem Juliabend des Jahres 1961 auf dem Saxophon gespielt hatte, als ich ihr Herz gewann. Heute hatte ich es endgültig verloren.
Ein flüchtiger Abschiedskuss.
Ich stieg in den Zug und setzte mich in das erste leere Abteil. Über meinem Platz stand auf der Rückseite der Hinweis: „Für Schwerbeschädigte“.
Wir wechselten durch das offene Fenster noch einige Worte, dann setzte sich der Zug langsam in Bewegung.Sie winkte.
Ich schaute zurück, bis sie in der Dunkelheit verschwand.“
Er legte das Manuskript beiseite. Nach der Lektüre kam ihm Zweifel, ob er einige Episoden nicht überarbeiten solle. Das las sich teilweise wie aus aus dem Drehbuch einer Seifenoper. Andererseits: genau so war es ja gewesen, warum also es verändern?
Seine Gedanken gingen weiter.
Heute mittag im Bett, das war auch ein Abschied gewesen, dachte er, und weitere, schmerzhaftere würden noch kommen. Bevor er sich zum schlafen legte las er noch einige Sätze aus seinem Seneca, schluckte eine der Schlaftabletten, die man ihm auf den Nachttisch gelegt hatte.
Die letzte scharfe Patrone. ... Alles hat ein Ende. ... Aber Gefühle hat man danach immer noch, wie der Professor sagte. ... Bin gespannt. …
Er schlief ein.
In der Nacht schrak er auf, weil sich auf dem Flur vor seinem Zimmer zwei Männer laut unterhielten, bevor sie in ihre Zimmer gingen. Er nahm eine zweite Schlaftablette, konnte aber nur mit Mühe wieder einschlafen.
Am Morgen wird er um halb acht abgeholt. Man rollt ihn in seinem Bett zum Aufzug, sie fahren zwei Stockwerke abwärts, dann über einen langen Gang in einen anderen Trakt. Im Vorbereitungsraum legt man ihm einen Brustgurt und ein Blutdruckmessgerät an; dann muss er warten, bis er an die Reihe kommt.
Eine Frau Mitte 30 in weissem Klinikdress stellt sich als Laura B., seine Anästhesistin, vor. Sie wird ihn während und nach der Operation überwachen. Nachdem sie ihm einige Kanülen angelegt hat fragt sie: „Können wir beginnen?“
Er nickt, sie sagt noch etwas, das er aber schon nicht mehr genau versteht. -
…Laura … Dante? … nein, Petrarca! … Dante war Francesca da Rimini … in Rimini war ich nie …
Er lachte.
... Brindisi … eine Melodie ging ihm durch den Kopf ...
Er spürte eine Berührung an der Hand, hörte eine Stimme wie aus entfernten Lautsprecher, schlug die Augen auf.
Neben ihm sass M.
„Was ist los? Wo sind wir?“.
„Wir sind im Aufwachraum. Wie geht es dir? Du hast so gestöhnt und dann plötzlich gelacht. Hast du Schmerzen?“
„Nein, überhaupt nicht. Ist es schon vorbei?“.
„Ja, du bist schon seit einer halben Stunde hier“.
„Wie lange hat es gedauert?“.
„Fünf Stunden“.
Er blickte sich in dem Raum um, rechts und links lagen noch andere frisch operierte Patienten in ihren Betten. Kurz danach öffnete sich die automatische Tür und der Professor kam herein.
„Es ist alles gut gelaufen,“, sagte er, „ich konnte die Drüse vollständig entfernen und habe keine verdächtigen Lymphknoten gefunden. Im Schnellschnitt gab es keinerlei auffällige Veränderungen im Kapselbereich, so dass es insgesamt sehr gut aussieht. Sie werden in einer halben Stunde auf die Station zurückgebracht und wir sehen uns dann morgen bei der Visite!“ Und weg war er.
Er fühlte sich in den nächsten Stunden geradezu euphorisch. M. fuhr nach dem Abendessen zurück, sie würde spätestens morgen mittag wieder bei ihm sein.
Um zehn Uhr abends wurde sein Urinbeutel geleert und die Schwester stellte ihm Schmerztropfen und „Etwas zum schlafen“ auf den Nachttisch. Er liess beides stehen, drehte sich auf die Seite und schlief sofort ein. Als die Nachtschwester auf ihrem Rundgang um Mitternacht hereinkam, um sich nach seinem Befinden zu erkundigen, reagierte er verärgert auf die Störung.
Nach einer Woche wurde er entlassen. Zur abschliessenden Visite kam diesmal der Professor selbst, umgeben vom weißen Schleier seiner Oberärzte, Assistenten und dem Pflegepersonal. Bei seiner scherzhaften Frage, ob denn der Strahl wieder so kräftig sei wie früher, wirkte das Grinsen seiner Entourage etwas gequält, das hatten sie offensichtlich schon öfters gehört.
„Kräftig ist was anderes, aber es läuft gut“, hatte er mit einem aufgesetzten Lächeln geantwortet, bevor der weiße Schwarm, wie durch einen geheimnisvollen Sog gezogen, wieder zur Tür hinaus wehte.
Bei der Entlassung bekam er außer dem Berichten für seinen Urologen auch ein Rezept über Viagra, das er nie einlöste. Er hatte andere Probleme, die zunächst beseitigt werden mussten, über seine Potenz machte er sich vorerst keine Gedanken. Wichtiger war, die Kontrolle über seine Blase zurückzugewinnen.
Er trug in den ersten Wochen nach der Operation spezielle Unterwäsche und zusätzlich Einlagen, bevor seine konsequente Beckenbodengymnastik den Schließmuskel so weit gestärkt hatte, dass er sich in der Öffentlichkeit halbwegs sicher bewegen konnte. In dieser Zeit hatte er keinerlei sexuelles Verlangen, ohne dass er oder seine Frau das als Mangel empfanden.
Im Mai des Jahres wurde er 70. Wegen seiner Blasenschwäche wollte er nur eine kleine Feier im Familienkreis. Am Ende des ruhig und in großer Harmonie verlaufenen Tages lag er schon im Bett, als M. noch einmal in sein Schlafzimmer kam.
‚Jetzt hätte ich doch beinahe dein Geburtstagsgeschenk vergessen‘, sagte sie augenzwinkernd.
‚Wir schenken uns doch nie etwas‘, hatte er vorsichtig geantwortet.
Sie legte sich zu ihm und „sie plauderten miteinander“, wie es irgendwo in den „Erzählungen aus den 1001 Nächten“ heißt.
Eine wohlige Müdigkeit überkam ihn, als sie ihn mit einem Gute-Nacht-Kuss verlassen hatte.
… plaisir sec … cold gun … auch nicht schlecht … Ja …
Am nächsten Tag nahm er die Arbeit an seinen Lebenserinnerungen wieder auf, die seit der Operation ruhte.
Er begann mit dem Kapitel „Abschiede“.
18.2.2024