Mentilyse


In dem Augenblick, in dem ein Mensch den Sinn und den Wert des Lebens bezweifelt, ist er krank.

(S. Freud)



Vorweg: im folgenden verwende ich medizinische Fachbegriffe, die ich am Ende der Erzählung erläutere. Der geschilderte Fall ist frei erfunden.

Die Doktoren A und B, Oberärzte der psychiatrischen Klinik, treffen sich an einem Freitag beim Mittagessen in der Kantine. Es gibt Fisch, gedünsteten Fenchel und Kartoffelpüree, und zum Nachtisch ein Schälchen Vanillepudding.

Das Gespräch dreht sich zunächst um belanglose Dinge aus dem Klinikalltag, den neuesten Klatsch, bevor A ein fachliches Gespräch beginnt.

„Ich habe letzte Woche einen hochinteressanten Patienten auf die Station bekommen. Wie es jetzt aussieht handelt es sich um einen Fall von Mentilyse.“

„Mentilyse? Nie gehört. Was soll das sein?“

„Ich bin zufällig vor kurzem darauf gestoßen als ich in ganz anderem Zusammenhang nach Literatur für meine Habilitationsschrift suchte. In einer Fußnote wurde ein Fall aus der Klinik in Paris beschrieben, bei dem die Symptomatik fast identisch war bei. Die Kollegen haben diesem Krankheitsbild die vorläufige Bezeichnung Mentilyse gegeben. Ich habe in den letzten Tagen nach weiteren Fallmitteilungen gesucht, aber nichts gefunden“.

„Mentilyse? Zerfall des Verstandes? Auflösung des Geistes... klingt ein wenig nach Paralyse...“

„Mit Paralyse hat das wenig gemeinsam, außer dass die geistigen Fähigkeiten auch bei meinem Patienten völlig zerstört worden sind. Alkohol oder Drogen und das Endstadium einer Lues¹ haben wir inzwischen ausgeschlossen.“

„Welche Symptome hat er denn?“

„Er ist ein verschroben wirkender Alter, der aber in guter allgemeiner Verfassung ist. Nach Aussagen seiner Tochter war er ein halbes Jahr in einem Kloster in China, in der Nähe von Shanghai, wo er mit den buddhistischen Mönche lebte, und wie sie auf den Straßen der Stadt betteln ging. Nach seiner Rückkehr habe sie sofort eine Wesensveränderung an ihm bemerkt. Er habe pausenlos über das „Wesen des Menschseins“ nachgedacht, und gebetsmühlenartig immer die gleichen Sätze gemurmelt. Ganze Tage sei er unruhig in seiner Wohnung auf und ab gelaufen, habe er kaum gegessen und zu wenig getrunken, die Körperpflege völlig vernachlässigt und sei in kurzer Zeit völlig heruntergekommen, so seine Tochter. Er wurde aufgegriffen und eingewiesen, weil er im Stadtpark eine Eiche umarmte und dabei heftig schluchzte.“

„Das erinnert ein wenig an den Zusammenbruch Nietzsches in Turin. Aber der hatte ja angeblich eine syphilisbedingte Paralyse, was ich, ehrlich gesagt, nicht recht glauben kann... Habt ihr schon etwas über mögliche Ursachen herausgefunden?“.

„Der Hirnscan² ist völlig unauffällig, es gibt keine Veränderung an den normalen anatomischen Strukturen. Ganz außergewöhnlich ist aber das EEG³. Es zeigt im Bereich des präfrontalen Kortex⁴ ständig wechselnde Zentren elektrischer Aktivität, die eine Ähnlichkeit der TdP⁵ (Torsade de pointes) im EKG⁶ haben. Das habe ich bisher noch nie so gesehen und es ist auch meines Wissens nirgends beschrieben worden. Und das merkwürdigste an der ganzen Sache ist: es gibt eine Konkordanz mit seinen sprachlichen Äußerungen. Je nachdem welches Zentrum gerade die Führung hat murmelt er gebetsmühlenartig immer denselben Satz, und wechselt ganz plötzlich auf einen anderen Satz, wie es schon seine Tochter beobachtete. Ich habe einige notiert."

Er holt ein Notizbuch aus seiner Kitteltasche.

„Hier einige Beispiele: ‚Mensch sein oder Mensch nicht sein‘- ‚Die unsterbliche Seele..., Platon‘ - ‚Auferstehung und das Leben‘ - ‚Das Rad der Zeit‘- ‚Metemsychose‘ - ‚Ex nihilo‘ - ‚Das Sein und das Nichts‘ - ‚Die egoistischen Gene.‘ "

„Gibt es tatsächlich keine Fachliteratur darüber, das würde mich doch sehr wundern.“

„Im Handbuch gibt es im Abschnitt „Nicht näher definierte Störungen der Verstandestätigkeit" dazu nur dier Fußnote über den Patienten in Paris, sonst absolut nichts.“

„Was ist aus dem eigentlich geworden? Hat man irgendeine Art von Therapie versucht?“

„Es kam einigen Tagen zu „einer Art elektrischem Hirninfarkt“ im Bereich des gesamten Frontallappens, einer Ausdrucksweise, die die ganze Unsicherheit der Kollegen ausdrückt. Vergleichbare Phänomene waren bisher nicht beobachtet worden. Der Patient war danach intellektuell droht, zeigte aber eine Überreaktion vegetativer Reaktionen wie unkontrollierte Esssucht und einen enorm gesteigerten Sexualtrieb.“

Sie waren inzwischen beim Pudding angekommen.

„Hochinteressant, das ist etwas für den „Lancet“. (Eine renommierte medizinische Fachzeitschrift). Gratulation, damit hast du die Habilitation in der Tasche ...

Hast du denn schon irgend eine Idee für eine Therapie?“

„Ehrlich gesagt nein! Ein Verfahren wie die Defibrillation ist meines Wissens im Bereich des Gehirns noch nie angewendet worden. Sie wäre in jedem Fall sehr riskant, denn es könnte dadurch zu einem elektrischen Hirninfarkt kommen, wie er bei den Patienten im Paris offensichtlich spontan eintrat. Ich werde auf alle Fälle mit den Kollegen dort Kontakt aufnehmen und mich genauer nach dem Verlauf ihres Patienten erkundigen."

Sie waren mit dem Essen fertig und brachten die Tabletts zurück zur Essensausgabe.

„Ich werde den Fall beim nächsten Kolloquium den Kollegen der Kliniken vorstellen. Wenn es dich interessiert informiere ich dich aber auch persönlich über den weiteren Verlauf.“

„Danke für das Angebot, aber ich bin jetzt erst mal 3 Monate für eine Gastprofessur in Harvard. Falls die dort auch mal etwas vergleichbares gehabt haben informiere ich dich.“

Sie verabschiedeten sich.

Einige Monate später sitzt Oberarzt Dr. B. beim Mittagessen neben der Privatassistentin des Klinikchefs. Wie jeden Montag gibt es Gulasch mit Nudeln und Rotkohl. Sie unterhalten sich über die die neuesten Vorgänge in der Klinik, wer hat gekündigt, wer hat mit wem ein Verhältnis und dergleichen. B. hört interessiert zu und stellt einige Fragen.

„Ich war 3 Monate in Harvard und bin heute den ersten Tag wieder in der Klinik. Deshalb interessiere ich mich für diesen Kram, man tritt sonst zu leicht in ein Fettnäpfchen,“ entschuldigt sich B. für seine Neugier. Nachdem man alles durchgekaut hat fragt B:

„Was ist eigentlich aus dem Fall von Mentilyse geworden, den Kollege A bearbeitet hat. Ich habe drüben immer auf die Veröffentlichungen aus unserer Klinik achtet, aber darüber habe ich nichts gelesen.“

Er blickt sich um. „Normalerweise ist er doch auch immer um diese Zeit beim Essen".

Seine Kollegin lacht kurz und sagt dann ernst.

„Er hat sich damals in diesen Fall von Mentilyse derart verbissen, dass er seinen Dienst in der Klinik immer mehr vernachlässigte. Das war auf Dauer natürlich nicht tragbar und der Chef hat ihn für 4 Wochen beurlaubt. Er kommt nächste Woche wieder, dann können Sie ihn persönlich fragen. Ich hoffe nur, dass der Zwangsurlaub ihn wieder auf die Beine gebracht hat, ist doch einer unserer begabtesten Wissenschaftler“. Nach einer kurzen Pause ergänzt sie: „Ausgenommen Anwesende!“, und zwinkert ihm schelmisch zu.

„Aber vielleicht wissen Sie etwas darüber, wie es weiterging. Wenn ich mich recht entsinne war doch eine Elektrotherapie im Gespräch?“

„Die Tochter hat die Einwilligung zu einer Defibrillation verweigert. Ungefähr eine Woche nach der Aufnahme kam es bei ihm zu einem Ausfall des gesamten Frontallappens und in der Folge zu einem Verlust wichtiger rmentaler Funktionen. Er hatte keine Kontrolle mehr über seine Emotionen, was sich bei ihm in gesteigerter Aggressivität und ungehemmter Äußerungen seiner sexuellen Bedürfnisse äußerte. Er grabschte alles an, was an weiblichen Personen mit ihm in Kontakt kam, von der Oberärztin bis zur Putzfrau. Es war grauenhaft“.

Eine Woche später, wieder an einem Montag, treffen sich die beiden erneut beim Mittagessen. Diesmal aber nicht zufällig, sondern sie haben sich verabredet. Noch auf dem Weg von der Essensausgabe zum Tisch sprudelt es aus der Assistentin des Chefs heraus:

„Wir haben doch vor einer Woche über den Kollegen A gesprochen, du warst gerade aus Amerika zurück, erinnerst du dich?“

„Ja selbstverständlich. Hast du was von ihm gehört?“

„Allerdings! Er ist gestern notfallmäßig als Patient aufgenommen worden, nachdem er in der Fußgängerzone versuchte, eine rumänische Bettlerin zu umarmen und dabei schluchzte wie ein Kind. Bei der Aufnahme war er völlig verwirrt und murmelte wie ein Automat immer die gleichen Sätze. Die Diagnostik läuft noch, aber bis jetzt kann man nur so viel sagen, dass es keine morphologischen Veränderungen am Gehirn gibt, lediglich das EEG zeigt völlig ungewöhnliche elektrische Potenziale...“

„Im präfrontalen Kortex entstehen wechselnde Zentren heftiger elektrischer Aktivität,“ unterbrach sie B, „die eine Ähnlichkeit der TdP (Torsade de pointes) im EKG haben.“ Sie sah in konsterniert an. Ihre Frage, woher er das wisse, wartete er nicht ab und fuhr fort:

„Und die Sätze, die er immer wiederholt, sind ‚Mensch sein oder Mensch nicht sein‘ - ‚Die unsterbliche Seele, Platon‘ - ‚Metemsychose‘ und dergleichen!“

„Woher weißt du das??“

„Kein Kunststück. Es sind die gleichen Symptome wie bei seinem Mentilyse-Patienten.“

Nach einer kurzen Pause fragt er: „Weiß man, wo er seinen Urlaub verbracht hat?“

„ Genau wissen wir es nicht, da er allein lebt und kaum soziale Kontakte hatte. Aber er hat gelegentlich Kollegen gegenüber geäußert, er würde gern einmal eine Reise nach China machen, um den chinesischen Buddhismus einmal an Ort und Stelle kennen zu lernen.“

„Ich denke, wir sollten sofort Infektionsalarm für die Klinik geben. Diese „Mentilyse“ könnte infektiös sein, das hatten wir einigen Jahren doch schon einmal!“.

„Langsam! Daran haben wir auch sofort gedacht. Die Station ist bereits isoliert und die virologischen Untersuchungen laufen. Aber vorläufig hat der Chef absolutes Stillschweigen angeordnet, bis die Untersuchungsergebnisse vorliegen“.

Am Ende der Woche, B. und die rechte Hand des Chefs waren sich inzwischen näher gekommen, verzichteten die beiden auf das Mittagessen mit Fisch, Fenchel und Kartoffelpüree in der Kantine der Klinik und verabredeten sich zum Abendessen beim Italiener.

„Schön, dass wir so gemütlich zusammen essen können,“ sagt sie, „wenn es wirklich ein Virus gewesen wäre hätte man wahrscheinlich die ganze Republik dichtgemacht.“

„Das sehe ich auch so, obwohl ich das damals schon als maßlos überzogen empfand.

Aber was anderes: wahrscheinlich wird der Chef aus diesem Fall ein Papier machen. Fairerweise müsste er dich dann als Koautorin nennen, das würde dich auf den Weg zur Habilitation ein riesiges Stück weiter bringen“.

„Er hat mich bereits ins Boot geholt, er ist halt noch einer vom alten Schlag!"
Nach dem Abendessen gehen sie eng umschlungen zu ihrer Wohnung.

„Du bist so still. Ist was?“

Er schüttelt schweigend den Kopf.

„ Um Gottes willen! Du fängst doch nicht etwa an, über das Wesen des Menschseins nachzudenken!?“

„Naja,“ sagt er, „das scheint doch ziemlich gefährlich zu sein.“

Er grinst übers ganze Gesicht, bevor er fortfährt:

„Etwas Positives hatte diese ganze unglückliche Geschichte aber doch.“

Sie schaut ihn fragend an.

„Ich meine den ungehemmten Sexualtrieb“.

Sie stößt ihm mit ihrem Ellbogen in die Seite und drückt ihm einen langen Kuss auf den Mund.

„Deiner reicht mir für die nächsten Jahre!“

Erläuterung der verwendeten medizinischen Fachbegriffe:

¹ Lues. Syphilis, eine Geschlechtskrankheit, die unbehandelt und bei Jahre langem Verlauf zu einem Zusammenbruch der geistigen Kräfte führen kann.

² Hirnscan. Ein bildgebendes Verfahren, um physiologische Funktionen im Inneren des Körpers mit den Methoden der Magnetresonanztomographie (MRT) darzustellen.

³ EEG. Elektroencephalogramm, grafische Darstellung der Hirnströme

⁴ Präfrontaler Kortex. Die Hirnrinde im vorne gelegenen Teil des Gehirns. Von dort werden wichtige mentale Fähigkeiten des Menschen, vor allem die Kontrolle der Emotionen, gesteuert.

⁵ TdP (Torsade de pointes) ist eine Veränderung im Elektrokardiogramm, bei der die Kontraktionsimpulse für die linke Herzkammer nicht wie normal vom sogenannten Sinusknoten ausgehen, sondern von wechselnden Zentren in der Wand der Kammer selbst. Die TdP ist ein lebensgefährlicher Zustand, der durch Zusammenbruch der Muskelkontraktionen des Herzens zu zu einem Kreislauf Stillstand und damit zum Tode führen kann.

⁶ EKG Elektrokardiogramm, Grafische Darstellung der Herzströme

14.1.2024