Müllabfuhr


„Das kann doch wohl nicht wahr sein!“ entfuhr es ihm.
Wie an jedem Jahresende hatte er akribisch den Kalender für die Müllabfuhr im neuen Jahr studiert, der Mitte Dezember an alle Haushalte verschickt wurde.
Früher war das einfacher gewesen, aber im Lauf der Zeit waren immer neue Anordnungen für die ordnungsgemäße Entsorgung des Hausmülls dazu gekommen. Für die Deckel der Mülltonnen gab es inzwischen acht Farben, und die waren nicht immer leicht zu unterscheiden.
Wichtig waren die Sondertermine: der Abtransport der Weihnachtsbäume, wo stand das Schadstoffmobil für giftige Abfälle, wann wurden Elektroschrott, Sperrmüll, Grünschnitt abgeholt, welche Kosten fielen dafür an. Er übertrug wie immer alle Daten penibel in seinen eigenen Kalender und glich die Termine dann noch einmal ab.
Erst dabei hatte er es gesehen: es gab eine neue Art von Sondermüll!
Die Erläuterung auf der Rückseite besagte, dass es sich um die Entsorgung von 80-jährigen und älteren Personen handelte. Das Abfallgut sei, in einen durchsichtigen Plastiksack verpackt, ohne Bekleidung, Brillen, Hörgeräte, Zahnersatz oder andere, nicht-biologische Materialien der Körperoberfläche, am Tag vor dem Abfuhrtermin an die Straße zu stellen. Das Gesamtgewicht der Tonne durfte 90 Kilo nicht überschreiten, sonst müsse - gegen Gebühr - eine zweite Tonne angemeldet werden. Für Altenheime und Hospize wurden besondere Container bereitgestellt und es gab für diese Einrichtungen spezielle Termine.

„Das kann doch wohl nicht wahr sein!“

Seine anfängliche Verwirrung wich bald zunehmender Beunruhigung.

Was bedeutete das?

Er selbst war ja in diesem Jahr 80 geworden. Gab es neues Gesetz für die Entsorgung von Alten?
Er fühlte sich kerngesund und geistig frisch, warum wollte man ihn dann entsorgen?

Weiter fragte er sich, wer darüber entscheide, das Ordnungsamt, eine spezielle Behörde? Und wie wollte man es praktisch durchführen? Kamen einige Tage vor dem Termin Vollzugsbeamte ins Haus und transportierten die „Müllsenioren“ in Spezialeinrichtungen, wo man sie „human“ um die Ecke brachte?

Mit Gas, einer Giftspritze, irgendetwas elektrischem? Wurden die präparierten „Abfälle“ dann einige Tage vor dem Termin wieder ins Haus gebracht? So hätten die Angehörigen Gelegenheit, Abschied zu nehmen? Und schliesslich: was kostete das?
Natürlich würde man von den Angehörigen oder Erben saftige Gebühren verlangen. 

Wenn jemand nicht bezahlen konnte, was dann, kam das Sozialamt dafür auf?

Andererseits: für die Angehörigen wäre es in manchen Fällen nicht das schlechteste, die lästigen Alten vom Hals zu haben, sie kämen dann schneller ans Erbe, hätten keine Pflegekosten usw.
Er
ging unruhig auf und ab, und weitere Fragen kamen ihm in den Sinn.
Was machen sie eigentlich mit dem „Material?“ Muss ja zu irgendetwas verwendet werden. Wird das kompostiert? Verbrannt? Vielleicht haben sie ja etwas damit vor, wie damals in diesem alten Film - wie hieß der noch gleich? - irgendwas mit grün ... war in den siebziger Jahren.

Die Krematorien werden boomen. Unseres hier gehört ja zu einem größeren Konzern, einer Aktiengesellschaft. Muss mal schauen, wie die momentan stehen.
Die wichtigste Frage aber war: was kann ich tun, um der Entsorgung zu entgehen? Eine überzeugende Antwort fand er nicht. Wenn es tatsächlich ein Gesetz gab, war die Zuwiderhandlung strafbar. Aber sicher wäre es immer noch besser, ein paar Jährchen im Knast zu leben, als gleich um die Ecke gebracht zu werden.

Vielleicht gab es ja Ausnahmeregelungen, da müsste man sich erkundigen. Der Präsident und die oberste Verfassungsrichterin waren schon über achtzig, die würden sie doch nicht einfach in die Tonne stecken!

Konnte man eventuell einen Stellvertreter zu benennen? Es gab doch viele, die sich für teures Geld in Holland oder der Schweiz umbringen ließen. Denen könnte man doch ein Angebot machen. Wäre eine klassische Win-win Situation, sie bekämen ein hübsches Sümmchen statt Geld auszugeben, ich gewänne mindestens ein Jahr Lebenszeit.

Er beruhigte sich schließlich bei dem Gedanken, dass nichts so heiß gegessen wird wie es gekocht wurde. 

Er setzte er sich in seinen Sessel und nahm das Buch zur Hand, das er gerade las. 

„1984“. 

Er hatte es schon früher gelesen, zweimal sogar, und fand es immer noch aktuell. Lediglich die Liebesgeschichte war ihm inzwischen fremd geworden.

10.2.2024