POINTS OF NO RETURN


Als Point of no Return wird in unterschiedlichen Zusammenhängen der Zeitpunkt innerhalb eines Vorgangs oder Ablaufs bezeichnet, von dem an eine Rückkehr zum Anfangs- oder Ausgangspunkt nicht mehr möglich ist. (Wiki)


RELE - 1966

Wir waren am Nachmittag ziellos durch Salzburg gebummelt und hatten darüber gesprochen, wie es nun weitergehen solle.

Sie wollte nach ihrer Matura im Juni des Jahres für einige Wochen nach Kalifornien fahren, ohne genau zu sagen, was sie dort machen wollte.

Ich erzählte ihr von unserer für die gleiche Zeit geplanten Indienreise.

Bezüglich einer gemeinsamen Zukunft kamen wir nicht weiter. Sie sagte, sie könne sich noch nicht entscheiden, brauche noch Zeit; ich möge geduldig sein, es werde schließlich alles gut werden. Ich antwortete, ich hätte jetzt fünf Jahre gewartet und wolle nicht länger im ungewissen bleiben.

Am Abend gingen wir zum Bahnhof, um auf meinen Zug nach München zu warten. In der Bahnhofshalle kam Musik aus den Lautsprechern.

Als der Zug einfuhr lief spielten sie gerade „Bésame mucho“, das Lied, das ich an jenem Juliabend des Jahres 1961 auf dem Saxophon gespielt hatte, als ich ihr Herz gewann. Heute hatte ich es endgültig verloren.

Ein flüchtiger Abschiedskuss.

Ich stieg in den Zug und setzte mich in ein leeres Abteil. Über meinem Platz stand auf der Rückwand: „Für Schwerbeschädigte“.

Wir wechselten durch das offene Fenster noch einige Worte, dann setzte sich der Zug langsam in Bewegung.

Sie winkte. 

Ich schaute zurück, bis sie in der Dunkelheit verschwand.


INGA - 1969

Nach unserer Rückkehr aus Frankreich sagte ich ihr, dass ich eine andere Frau liebe.

Sie war völlig verstört. Ihre immer gleichen Fragen nach dem warum und wieso wechselten ab mit heftigen Weinkrämpfen. Als sie sich etwas beruhigt hatte brachte sie zum Bahnhof. Wie in Trance stieg sie in den Zug nach Graz und ging ohne sich umzuwenden in das nächste Abteil. 

Einige Tage später trafen wir uns noch einmal in München. Sie hatte darum gebeten.

Nach endlosen Diskussionen begriff sie, dass sie mich nicht zurückgewinnen würde, und bekam einen hysterischen Anfall.

Sie drohte sich umzubringen, setzte sich auf die Balkonbrüstung im sechsten Stock meiner Wohnung und schaute hinab in die Tiefe. Es dauert lange, bis es mir gelang, sie dazu zu überreden, in die Wohnung zurückzukommen und ein Beruhigungsmittel zu nehmen. In der Nacht wachte sie immer wieder auf und weinte.

Am Morgen brachte ich sie zum Bahnhof. Mein Angebot, sie auf den Bahnsteig zu begleiten, lehnte sie ab. Ich schaute ihr nach, wie sie langsam durch die Halle ging. Sie tat mir leid wegen der Enttäuschung und des Schmerzes, die ich ihr bereitet hatte, ein schlechtes Gewissen hatte ich aber nicht.

Auf dem Rückweg zum Ausgang kam mir plötzlich das Lied „La Golondrina“ in den Sinn. Das Lied von der Schwalbe hatte ich nach unserem ersten Treffen in dem kleinen Ort in Oberösterreich, wo sie mit ihrer Mutter lebte, im Hochgefühl einer beginnenden Liebe immer wieder im Auto gesungen. Das war vor zwei Jahren gewesen.


JADA - 1975

Sie musste zurück nach Marokko, weil ihre Arbeitsgenehmigung für die Schweiz ablief. Von dort aus wollte sie mit Unterstützung der Klinik eine erneute Genehmigung für ihre Arbeit als Laborantin beantragen. 

Die Nacht vor ihrer Abreise nach Rabat verbringen wir zusammen. Am Morgen sitze ich nach einer intensiven, aber stillen Begegnung auf dem Bett, um mich anzuziehen. Aus dem Radio klingen französische Chansons. 

Als sie aus dem Bad kommt hat sie sich noch nicht angezogen, setzt sich auf meinen Schoß, presst ihr Gesicht an meinen Hals und umarmt mich heftig. Schließlich löst sie die Arme und sagt etwas auf Arabisch, das so herzergreifend traurig klingt, dass auch mir die Tränen kommen. Wir wissen beide, dass es ein Abschied für immer ist, da auch meine Zeit in Davos bald zu Ende ist. 

Sie packt ihre restlichen Sachen in den Koffer, zieht ihren Mantel an und gibt mir, den Koffer schon in der Hand, noch einen Kuss.

„Au revoir! A bientôt, mon grand amour … Meine grosse Liebe“. (Ihr reizender, französisch gefärbter Akzent, wenn sie deutsch sprach...).

Sie möchte nicht, dass ich sie zum Taxi begleite, das bereits unten wartet. Ich sehe ihr nach, als sie die Treppe hinab geht. Auf einem Absatz dreht sie sich zu mir um und sagt energisch:

„Ferme la porte s’il te plaît! … Je t’en prie!“ 

Ich gehe in die Wohnung zurück, um das Bett zu machen. Aus dem Radio klingen die letzten Zeilen von „Septembre“ von Barbara, ein Lied, das sie sehr liebte.


Jamais les fleurs de Mai n‘auront paru si belles. 

Les vignes de l‘année auront de beaux raisins. 

Quand tu me reviendras, avec les hirondelles, 

Car tu me reviendras, mon amour, à demain..


Nie waren die Blumen im Mai so schön.
Die Stöcke werden gute Trauben tragen in diesem Jahr,
Wenn Du zurück kommst, mit den Schwalben.
Denn du kommst zurück zu mir, meine Liebe, bis bald..

(Ü: F.Boell 2018)


Beim Aufschütteln des Kopfkissens finde ich einen aus einem Spiralblock gerissenen Zettel. Darauf hatte sie mit Bleistift geschrieben:


„Rappelle-toi a ta Jada, Denk’ an deine Jada

combien je t’aimais, wie sehr ich dich liebte,

quand encore une fois wenn später einmal

une autre fille comme moi, ein Mädchen wie ich,

avec des cheveux noirs, mit schwarzen Haaren,

sur tes genoux auf deinem Schoss

t’embrasse.“ dich küsst.



LILLA - 1977

Ich hatte mich Anfang 1976 von Lilla, meiner Frau, getrennt und war zu Monica gezogen (S. „Nica - 1977).

Ein Jahr später stellte ich einen Scheidungsantrag, der nach einigen Monaten vor Gericht verhandelt wurde.

Ich hatte L. seit unserer Trennung Anfang 1976 nicht gesehen. Sie saß schon im Verhandlungssaal als mein Anwalt und ich eintrafen. Ihre Lippen waren blass, die Haare weissblond gefärbt, sie sah alt und verhärmt aus. Ich ging zu ihr und begrüßte sie freundlich mit knappen Worten.

Ihr Anwalt war wohl auf dem Weg von Garmisch aufgehalten worden, der Richter eröffnete nach einer kurzen Wartezeit aber dennoch die Verhandlung.

Er fragte uns zunächst, ob wir es uns inzwischen anders überlegt hätten, was ich mit „Nein“, sie mit Schweigen beantwortete. Dann verlas die Protokollantin, dass die Trennungszeit von Januar 19xx bis August 19xx festgesetzt werde. 

Anschließend fragte der Richter, ein älterer Herr mit einer dicken roten Rosacea-Nase, schwarzer Hornbrille und kleinen, entzündeten Augen jeden von uns, ob wir die Scheidung wollten.

Mein rasches „Ja“ klang trotz meiner inneren Befangenheit überzeugt, ihr „Ich weiß es nicht“ kam nur leise und zögerlich.

Inzwischen war ihr Anwalt eingetroffen. Der Richter sagte, dass die Sache, wenn sie zustimme, viel einfacher sei, und gab ihr einige Minuten zur Beratung mit ihrem Anwalt, der eigenartig unkonzentriert in seinen Unterlagen blättert. 

Dann die erneute Frage, ob sie einer Scheidung zustimme, worauf sie immer noch mit Zögern und Ratlosigkeit reagiert. Ob sie sich denn vorstellen könne, dass ich die Ehe noch einmal aufnehmen würde?

Sie habe das geglaubt, weil es ja schon einmal so gegangen wäre ...
Aber unter diesen Umständen ...

Der Richter (geduldig): „Aber Sie müssen doch wissen, was sie wollen.“ 

Sie, nach einer längeren Pause, leise: „Ich stimme zu“. 

Die angespannte Atmosphäre löste sich schlagartig, die Erleichterung war nahezu greifbar. 

Der Rest war Formsache. Der Richter gestattete mir den Zugang zu unserer gemeinsamen Wohnung, um meine persönlichen Sachen abzuholen.

Am vereinbarten Termin war sie selbst nicht dabei. Sie hatte eine Arbeitskollegin gebeten, zu protokollieren, was ich einpackte. Ihre eigenen Sachen hatte sie offensichtlich bereits schon lange ausgeräumt. Ich war glücklich, meine Sammlung von LP' s wieder zu haben, Aufnahmen aus Klassik und Jazz, an denen mir viel lag.

Auf dem Plattenspieler lag noch die völlig eingestaubte Platte von Alexandra, die ich ihr am Anfang unserer Bekanntschaft geschenkt hatte.

Das Lied „Mein Freund, der Baum“ hatten wir oft zusammen gehört, als unsere Liebe noch frisch war. Ich säuberte die Platte, schob sie in die Hülle und gab sie der Arbeitskollegin mit.

Sie selbst habe ich nie wieder gesehen.


NICA - 1977

Vor zwei Jahren hatte ich mich von meiner Frau getrennt und war zu Monica gezogen, die als Krankenschwester in der Klinik arbeitete. Sie lebte damals mit ihrem 4-jährigen Sohn Christopher seit einem halben Jahr in München.

Ihr Mann, ein kanadischer Militärpilot, war einige Jahre zuvor bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Sie war kurz danach zunächst nach Berlin zurück zu ihren Eltern gezogen.

Als sie sich entschied, wieder nach Berlin zurück zu gehen, versuchte ich nicht, sie umzustimmen.
Von dort schickte mir einen Abschiedsbrief.

„Lieber F.!

Sicher findest Du es komisch, dass ich Dir schreibe, aber ich habe jetzt lange über Dich und mich nachgedacht und weiß, dass wir niemals zusammen glücklich werden würden. Ich mag Dich immer noch sehr gern, aber ich liebe Dich nicht. Wir passen einfach nicht zusammen und ich glaube nicht, dass wir es lernen könnten, dazu sind wir beide zu egoistisch und verschieden. Du hast dich immer fair uns gegenüber verhalten. Ich bin froh, dass ich diesen Schritt nach Berlin getan habe, denn jetzt finde ich wieder zu mir selbst. Ich habe viele „alte“ Freunde wieder gefunden, die mich so nehmen ich bin und nicht an mir und meinem Eskapaden verzweifeln wie Du. Und deshalb bitte ich Dich, dass wir in Frieden auseinandergehen und Freunde bleiben. Sicher wirst Du jetzt denken, das ist wieder so ein Spiel von mir. Aber ich habe es mir wirklich lange und gründlich überlegt, es ist wohl das beste so. Ich möchte, dass wir weiter- hin Freunde bleiben, aber wenn Du meinst, dass das nicht geht, müssen wir unsere Verbindung ganz abbrechen. Ich weiß, ich schulde Dir noch eine Menge Geld, Du wirst es wieder bekommen (aber nicht auf einmal), wenn ich wieder Geld verdiene.

The answer, my friend, is blowin' in wind

Alles Gute

Nica“


SILKE - 1978

Diese Geschichte ist am Ende versickert. 

Im Mai waren wir mit dem Zug nach Amsterdam gefahren, wo wir mehrere Stunden durch die Stadt bummelten und eine schlaflose Nacht lang in Kneipen herumhockten.

Sie hat mir in dieser Nacht enorm zugesetzt, mir harte Sachen an den Kopf geworfen. Es war eine Art psychische Vivisektion, die mich völlig fertig machte.

Am Morgen besuchten wir nach einer Hafenrundfahrt das

Van-Gogh-Museum, bevor wir zum Bahnhof gingen. 

Auf der Rückfahrt redeten wir kaum miteinander. Ich fühlte mich ausgelaugt, erschöpft von meiner Liebe zu ihr; es war mir mehr denn je zweifelhaft, ob sie diese jemals erwidert hatte.

Auf der Fahrt wurde mir klar, dass wir uns nicht wieder sehen würden, und ich wehrte mich nicht gegen diese Erkenntnis, die das Ende bedeutete. 

Sie winkte heftig aus dem Fenster, als ich in W. aus dem Zug gestiegen war. Ich hob nur kurz die Hand zum Gruss, und ich wusste sofort: es war letzte, was ich von ihr sehen würde. 

Einige Monate verliefen ohne Kontakte. Dann schickte sie mir per Post „Das Gewicht der Welt“ von Peter Handke zurück, das ich ihr geliehen hatte. Im Buch lag ein kurzer Brief, in dem sie schrieb, sie könne sich meinen „Sinneswandel“ nicht erklären.

In meiner Antwort erklärte ich, wie sehr ich in sie verliebt gewesen sei; dass die Verliebtheit abgeklungen sei; von einem „Sinneswandel“ könne nicht die Rede sein, es sei vielmehr eine Sinnesbegradigung. 

Als ich den Brief einwarf spürte ich lediglich eine kleine Traurigkeit.


ISOTTA - 1979 *

Wir hatten uns in Davos kennengelernt, wo ich im Rahmen meiner Dissertation mehrere Monate in einer Klinik tätig war, in der sie als Laborantin arbeitete. Nach Fertigstellung der Arbeit kehrte ich nach München zurück, um meine Facharztausbildung abzuschließen. Danach trafen wir uns nur noch gelegentlich zu einem gemeinsamen Wochenende.

Wir hatten wir uns einige Monate nicht gesehen, als wir uns im November in Wien trafen. Ich war um die Mittagszeit in Schwechat gelandet, sie war mit dem Zug aus Ancona gekommen, wo sie ihren Vater besucht hatte und wartete bereits im Hotel auf mich.

Um sechs Uhr waren wir in der Staatsoper, wo der „Tristan“ gegeben wurde. In der Pause assen wir eine Kleinigkeit, nach Ende der Vorstellung gingen wir noch in eine Weinstube. Wir sprachen über die Aufführung, dann kam ich auf das zu sprechen, was mir am Herzen lag: die Frage nach einer gemeinsamen Zukunft.

Sie reagierte unbestimmt, meinte, es sei etwas anderes, sich gelegentlich zu treffen oder dauernd zusammen zu leben; der Altersunterschied mache ihr nichts aus - sie war 15 Jahre jünger als ich -, aber die Vorstellung eines Lebens in einer so großen Stadt wie München mache ihr Angst; an eigene Kinder habe sie bisher nicht gedacht.

Nach Mitternacht kamen wir ins Hotel zurück. Ich war todmüde und verzichtete trotz ihrer Einladung auf eine Wiederholung unserer Begegnung vom Nachmittag. 

Am Morgen eine schnelle Intimität, auf ihren Wunsch à la 69, dann hiess es packen, frühstücken, auschecken.

Beim Abschied sind wir beide verlegen und unsicher, vermeiden eine konkrete Verabredung für ein Wiedersehen. Sie geht zum Bahnhof, um mit dem Zug nach Davos zu fahren, ich steige in ein Taxi, das mich zum Flughafen bringt.

Der Fahrer hat das Radio eingeschaltet. Sie bringen gerade einen Bericht über die gestrige Aufführung des „Tristan“ in der Staatsoper, der mit einer Aufnahme der Ouvertüre eingeleitet wird. (Was immer man von Wagners Musik halten mag: diese Ouvertüre ist ein Geniestreich.)

Im Fond des Wagens höre ich den Wiener Philharmonikern zu. Als er vor einer auf rot stehenden Ampel hält, sehe ich sie zufällig an einer Tramhaltestelle, wo sie wartet, gedankenverloren in ihrem Ledermantel, bei leichtem Schneetreiben; ich winke, aber sie bemerkt es nicht. Die Ampel schaltet auf Grün, und das Taxi fährt weiter.

Das letzte, was ich von ihr sah, war ihr blasses Gesicht, die dunklen Augen, die tiefschwarzen gekrausten Haare.

Ich weiß nicht, warum ich plötzlich an „Anna Karenina“ dachte.

Etwa ein halbes Jahr später traf ich einen Kollegen, der an einem Symposion an „unserer“ Klinik in Davos teilgenommen hatte. Er erzählte mir, dass Isotta mit einer Oberärztin der Klinik liiert war, deren Vorliebe für Frauen bekannt war.

* Isotta ist die italienische Form von Isolde.

2024